Michael Ende: Momo
Neulich habe ich „Momo“ von Michael Ende als Hörbuch gehört. Darin geht es um Zeit. Das ist natürlich für mich als Zeitmanagement-Fan ein wichtiges Thema. Unsere Zeit ist begrenzt. Da gibt es nichts zu verschwenden.
Momo ist ein ganz besonderes Mädchen. Es lebt völlig frei in einer Ruine, unterstützt durch seine Freunde. Und Freunde findet Momo viele, denn sie kann so wunderbar zuhören, dass alle in ihrer Nähe sich selbst finden. Sie trägt irgendwelche beliebige Kleidung aus dem Lumpensack, isst, was man ihr schenkt, und lebt in den Tag hinein. Sie muss weder zur Schule noch sonst irgendetwas anderes tun, sie lebt nur mit, für und von ihren Freunden. Dieses paradiesische Leben klingt zu schön, um so zu bleiben.
Dann tauchen die grauen Herren von der Zeitsparkasse auf. Sie drängen die Erwachsenen dazu, bei ihnen ein Konto zu eröffnen und die gesparte Zeit einzubezahlen mit dem Versprechen von späteren Zinsen. Stattdessen rauchen die grauen Herren die Zeit der Menschen in ihren Zigarren auf, um davon zu leben. Es handelt sich also um Betrug.
Was lernen wir nun aus diesem Kinderbuch Wichtiges über Zeit und Zeitmanagement? Zunächst fürchtete ich, es liefe darauf hinaus, dass Zeitmanagement verpönt würde. Aber genauso wie Zeit ist auch das Zeitmanagement genau das, was wir daraus machen. „Zeit ist Leben.“ Eben darum finde ich es wichtig, sorgfältig damit umzugehen. Dabei meine ich aber kein krampfhaftes Zeitsparen, denn wir lernen ja von dem Friseur: Wenn man beim Arbeiten ständig auf die Uhr sieht und versucht, einen Kunden in 20 statt in 30 Minuten abzufertigen, dann geht der Spaß an der Kunst verloren. Durch diese Hektik werden die Tage kürzer und die gesparte Zeit verschwindet. Man weiß nicht, wohin. (Vermutlich nicht in einen Keller, um dort zu Zigarren gedreht zu werden, aber irgend etwas Ähnliches.) Bevor der Friseur auf die Idee mit dem Zeitsparen kam, war sein Tag ausgefüllt und er arbeitete mit Freude. Außer für Seifenschaum und Scherengeklapper fand er noch Zeit zum Plaudern. Die Work-Life-Balance bestand darin, bei der Arbeit lebendig zu sein. Die Zeitsparer ertragen auch die Stille nicht mehr, ihr Leben wird ärmer und gleichförmiger, sie feiern keine Feste mehr und treffen keine Freunde. Allein die Nützlichkeit entscheidet darüber, wohin sie ihre Zeit investieren.
Von Beppo Straßenkehrer lernen wir über das Kehren einer langen Straße: „Man darf nie an die ganze Straße auf ein Mal denken.“ Man konzentriert sich auf einen Schritt nach dem anderen und: „Auf ein Mal merkt man, dass man Schritt für Schritt die ganze Straße gemacht hat.“ Genau so schreibe ich meine Bücher: eine Seite nach der anderen, ohne daran zu denken, wie viele Seiten noch vor mir liegen. Sonst tritt nämlich der von Beppo beschriebene Effekt ein: Man arbeitet und arbeitet, und stellt dann fest, dass man von der langen Straße nur einen kleinen Teil geschafft hat, und wird ganz mutlos.
Schmunzeln musste ich, als die Kinder von ihren Eltern hören, Momo und ihre Freunde seien „Tagediebe“, die anderen die Zeit stehlen. Daraufhin schwören diese, dass sie noch nie jemandem Zeit gestohlen haben. Das mussten sie gar nicht, bekamen sie ja geschenkt. Für Momo wird es zu einem schmerzhaften Vorwurf, sie würde ihren Freunden schaden, indem sie sie zu unnützer Zeitverschwendung verführt.
In meinem Gehirn klingelte es, als in diesem doch etwas älteren Buch schon das Lied vom Fachkräftemangel gesungen wird. Daraus folgt, dass man auch die Kinder zum Zeitsparen erziehen muss. Sie dürfen nur wohl organisierte, lehrreiche Spiele im Kinderdepot spielen. Eigene Kreativität, Freiheit und vor allem den eigenen Rhythmus zu finden, das ist unerwünscht. Da ich gerade ein Buch über Kreativität schreibe, denke ich, dass genau das den jüngeren Generationen fehlt. Wenn ich mir vorstelle, ich sei 20 Jahre später geboren, dann hätte ich mich vermutlich im Internet verloren mit den vielen Informationen und Angeboten. Wissensdurstig hätte ich dort vor allem Sinnvolles konsumiert, aber ich wäre nicht diejenige, die ich heute bin. Das Hochleistungsgehirn braucht beides: konzentrierte, rationale Arbeit abwechselnd mit Gelegenheiten zum Gedankenschweifen wie
beispielsweise beim Joggen und Wandern. Ich bin auch sehr froh, dass wir damals nur drei Fernsehprogramme hatten. Wir spielten also draußen in der Natur und erzählten einander Geschichten. Das sieht man heute überhaupt nicht mehr, die umherziehenden Kinderhorden. So als würden alle Kinder an irgendwelchen Bildschirmen kleben. Nicht gut.
Kurz und gut: Das Buch ist immer noch aktuell, nur dass es inzwischen noch schlimmer steht. Denn die grauen Herren sagen noch „Kinder zuletzt“, denn Kinder lassen sich am schwersten zum Zeitsparen bringen. Ich weiß nicht, ob das noch gilt. :-(
Ich sehe dabei die Gefahr, dass die gehetzten, überforderten Menschen nicht nur phantasielos und krank werden, weil sie ihre eigenen Bedürfnisse nicht spüren, sondern sie ignorieren die Bedürfnisse anderer mit derselben Kälte. Mitgefühl und Hilfsbereitschaft für andere erwachsen aus dem Mitgefühl mit sich selbst!
Insgesamt handelt es sich um eine märchenhafte Geschichte mit schlichten Figuren und einer klaren Grenze zwischen Gut und Böse. Am Ende gewinnt natürlich das Gute. Aber wie es sich für ein gutes Märchen gehört, lernen wir auch etwas daraus über die Geheimnisse der Zeit und den Wert einer Stunde unseres Lebens.