Film: Die zweite Welle

Publié le

Am 26. Dezember 2004 überrollte ein Riesentsunami die thailändische Küste und verwandelte innerhalb von Minuten ein Urlaubsparadies in die Hölle. Das ZDF hat mit „Die zweite Welle“ eine sechsteilige Fernsehserie gedreht, in der nicht nur die Naturkatastrophe, sondern auch ihre psychischen Folgen sehr eindrücklich beschrieben werden: https://www.zdf.de/serien/die-zweite-welle

Außer um Traumata geht es auch um die Beziehung zwischen einer Mutter und ihrem Kind. Sehr gut gemacht finde ich die Reihenfolge, in der wir die Vorgeschichte der einzelnen Personen, die Ereignisse des 26. Dezembers und die Ereignisse der 15 folgenden Jahre erfahren. Abhängig von den Informationen, die ich als Zuschauerin erhalte, wechselt meine Solidarität die Seiten und mein Verständnis aller Untaten vertieft sich. Wie Harry gleich in der ersten Szene betont: Sie sind alle keine schlechten Menschen, auch wenn sie Schlechtes getan haben. Dies gilt auch für Alexandra.

Alexandra hatte sich nach einer schmerzhaften Beziehung zur Mutter und einem traumatischen Erlebnis als von zu Hause weggelaufene Teenagerin in Thailand eine neue Existenz aufgebaut mit einem Mann, Lebensunterhalt und ihrer kleinen Tochter Lucy, die sie, als Gegenprogramm zum destruktiven und autoritären Erziehungsstil ihrer Mutter, frei aufwachsen lässt.

Nach Jahren hat ihre Schwester Julia sie dort gefunden und reist extra an, um sich zu entschuldigen. Sie bringt ihren Mann, ihre kleine Tochter Noa und drei Freunde mit. Zu dem klärenden Gespräch kommt es allerdings nicht mehr. Beide Frauen und ihre Töchter werden von der Wasserwalze überrollt. Alexandra war es gerade noch gelungen, ihre Tochter in Sicherheit zu bringen, doch sie selbst wird schwer verletzt und ist dem Tod näher als dem Leben. Julia und Noa bleiben verschollen, von Noa findet Harry nur noch eine weiße Kindersandale im Sand. Stattdessen klammert er sich an Lucy, die ihrer Cousine Noa sehr ähnlich sieht und ungefähr gleich alt ist.

Der Flieger geht bald und keiner der Touristen möchte einen Tag länger als nötig im Krisengebiet bleiben, um sich um Alexandra und Lucy zu kümmern. Lucy müsste also in ein überlastetes Kinderheim und niemand weiß, ob Alexandra überleben wird. (Anmerkung: Zeitdruck ist leider oft ein Faktor, der Fehlentscheidungen begünstigt.)

Darum treffen die Freunde eine folgenschwere Entscheidung: Sie geben Lucy als Noa aus und können sie somit nach Deutschland retten. Der traumatisierte Harry fasst wieder Lebensmut, indem er sich um das kleine Mädchen kümmert. Diese unmoralische Entscheidung scheint richtig zu sein.

Bis fünfzehn Jahre später Alexandra plötzlich vor Harrys Türe steht. Zunächst ahnt sie nicht, dass Noa ihre Tochter ist, klammert sich aber an ihre wenigen Verwandten. Auch ihre Mutter lebt noch, die sie immer noch hasst. Aber ein riesiges Muttermal verrät dann doch Lucys Identität und Alexandra schwört Rache.

Die fünf beteiligten Erwachsenen schwanken zwischen Mitleid mit Alexandra, Rechtfertigung, Wiedergutmachungsgedanken und Mordplänen hin und her. Leider setzen sie auf das damalige Unrecht noch weiteres Unrecht oben drauf.

Und Alexandra vertraut sowieso niemandem. Nachdem man ihr in Thailand in einer Notamputation einen Unterschenkel entfernt hatte, musste sie sich verletzt und alleine irgendwie durchschlagen. Gegen die Schmerzen brauchte sie Drogen und damit sie sich die Drogen leisten konnte, musste sie dealen und wurde erwischt. Daraufhin verbrachte sie 13 Jahre in einem thailändischen Gefängnis, wo sie hart wurde. „Jeder muss sich selbst helfen“ wurde ihr Motto.

Trotzdem wird ihr guter, weicher Kern berührt, als Noa ihr mitfühlend über die Wange streicht. In diesem Moment glaubte ich, man könne sich mit ihr gütlich einigen und vermutlich wäre das sogar möglich gewesen, wenn man sie nicht als eine Verbrecherin abgestempelt hätte und sich an die Rechtfertigung geklammert hätte, sie sei damals und heute nicht als Mutter geeignet. Diese empathielose Mittelschichtarroganz der etablierten Ärzte und Anwälte gegenüber der ramponierten Alexandra erschütterte mich.

Die Serie besticht durch eine durchdachte, ästhetische Komposition der Bildsprache und eine wohlkonstruierte Situation, in der der Unterschied zwischen Gut und Böse verschwimmt. Der Zeitpunkt für jede Enthüllung ist perfekt geplant. Gleich im Anschluss an Folge 6 habe ich mir nochmal den Anfang von Folge 1 angesehen, weil ich zu den zahlreichen Andeutungen zurück kehren wollte, die ich anfangs nicht verstehen konnte. Mich beeindruckte auch die konsequent durchgezogene Farbsymbolik: Jede Person hat ihre eigene Farbe, aber nicht in jedem Fall entspricht die übliche Farbsymbolik ihrem Charakter, sondern stellt eher eine Maske dar. Die unschuldige Noa in Weiß, der braune, schlichte Harry, Britta und Matthias in Blau und Grün, das Ruhe und Zufriedenheit vortäuscht, Heiko in tarnendem Grau, die gerechtigkeitsliebende, stets beherrschte rotgekleidete Maren und Alexandra in den Farben Gelb und Orange, die im Mittelalter die Farben der Ausgestoßenen waren.

Ein echtes Kunstwerk, das unter die Haut geht und schmerzt.

Pour être informé des derniers articles, inscrivez vous :
Commenter cet article